Sonntagmittag: Beim zweiten Versuch klappt es. Ich darf nicht nur in die Wohnung zurück. Ich darf nun auch dort wohnen. Oder besser: Ich darf dort campieren. Zwar gibt es Gas und Strom. Die Toilette darf jedoch noch nicht benutzt werden; die Notdurft verrichtet man notdürftig auf den Chemietoiletten beim Schulhaus. Zudem gibt es in unserem Haus kein fliessendes Wasser – oder in Anbetracht der vergangenen Ereignisse vielleicht besser: kein Leitungswasser. Der Keller unseres Hauses steht noch zur Hälfte unter Wasser. Erst der Sattel meines Rennvelos ist nach einer Woche in der braunen Brühe wieder aufgetaucht.
Am Abend pumpt die Feuerwehr den Keller soweit leer, dass man die Kellerabteile wieder erreichen kann. Bei meinem steht die Tür sperrangelweit offen; ich habe sie vor dem Unwetter bloss angelehnt. Im Abteil liegt alles an einem Haufen: die schweren Kisten mit den Büchern, Ordnern und Dias, die Schuhe, Werkarbeiten, Inlineskates, die Elektrogeräte und Militärsachen. Ich lasse alles liegen.
Am Abend schlendere ich durch die Matte ins „Tramdepot“. Denn Brot habe ich keines im Schrank. Und zum Kochen fehlt das Wasser. Die paar Gegenstände in meinem Keller sind eine Bagatelle im Vergleich zu dem, was ich unterwegs sehe: Entlang der Häuser liegen mannshohe Haufen – das Interieur ganzer Haushalte, die Waren der meist kleinen Geschäfte. Einige davon haben keine Versicherungsgesellschaft gefunden, die sie – nach den früheren Hochwasser – noch versichern wollte. Am Geländer des provisorischen Holzstegs trocknen notdürftig gereinigte Teppiche. Auf dem Rückweg scheint die Matte wie ausgestorben. Einzig Militär, Feuerwehr und Polizei patroullierten durch das Quartier.
Am nächsten Morgen: Die Mitarbeiterin der „Mobiliar“ kommt vorbei und macht ein Foto des Kellerabteils – ein Totalschaden, wie sie sagt, ausser dem Velo vielleicht, das ich zum Mechaniker bringen soll. Nun kann die Arbeit beginnen. Das Wasser hat die schweren Kisten mit den Büchern und den Ordnern umgekippt; trotz der Kehrichtsäcke, in die ich die Bücher gepackt hatte, sind sie komplett durchnässt. Die Kartonschachteln sind in eine schlammige Pappe zerfallen, die Kleingegenstände, Werkarbeiten und Souvenirs liegen verstreut am Boden. Meine Wanderschuhe und eine kleine Holzschachtel aus dem Werkunterricht sind bis zum Kellereingang geschwommen. Und eines der beiden Djembes liegt in der anderen Ecke des Kellers bei der Waschmaschine. Kiste um Kiste trage ich die Gegenstände aus dem Keller vor das Haus. Dort mache ich das Inventar, öffne nochmals die alten Hefte und Bücher, sortiere einige Gegenstände aus. Doch zu retten gibt es wenig. Das meiste landet auf dem Müllhaufen vor dem Haus, darunter alle Notizen, Arbeiten, Lager- und Exkursionsberichte aus dem Lehrerseminar, das persönliche Archiv der Schülerzeitung Klack, Notizbücher, Aufzeichnungen, Fotos aus der Kindheit. Einige Gegenstände spüle ich gegen Abend ab, versuche den stinkenden Schlamm abzuwischen, lasse sie auf meinem Balkon trocknen.
Insgesamt fünf Keller räumen meine Nachbarn mit zwei jungen Helfern, die eine Nachbarin engagiert hat, und mir an diesem Tag im Licht von Taschenlampen leer; die vom älteren Nachbarsehepaar angeforderten Hilfskräfte treffen nicht ein.
Zwischendurch zeigt mir ein Kollege seine Wohnung: Die vor kurzem komplett renovierte Wohnung muss ganz saniert werden. Alles liegt unter einer Schicht Schlamm, die Wandisolation fällt in Brocken ab, der Parkettboden wölbt sich entlang den Wänden kniehoch.
Derweil pumpt die Feuerwehr im Keller unserer Liegenschaft das restliche Wasser ab und fordert einen Elektriker an. Dieser setzt später die so genannte Fäkalpumpe wieder in Betrieb, die unser Sickerwasser aus dem Keller in die höher gelegene Kanalisation pumpt. Zwei Mitarbeiter der EWB finden heraus, weshalb unser Haus – anders als die umliegenden Liegenschaften – noch immer kein Leitungswasser hat: Offenbar hat ein Mitarbeiter am Anfang der Ãœberschwemmung versehentlich statt der Gas- die Wasserzufuhr abgestellt; die beiden – schlecht beschrifteten – Deckel befinden sich in der Strasse gleich nebeneinander. Sie drehen die Wasserversorgung wieder an, stellen dafür die Gasversorgung ab. Diese müsse zuerst kontrolliert werden. Die Zuleitung befindet sich aber im Abteil jener Mieter, die erst am kommenden Tag kommen können. Warmwasser gibt es auf unbestimmte Zeit keines: Das mannshohe Expansionsgefäss für das Wasser liegt umgekippt im Heizungsraum. Dort müsse wohl alles ersetzt werden, sagt der Mitarbeiter der EWB.
Nach 12 Stunden im Keller und vor dem Haus, wasche ich meine Kleider behelfsmässig unter der Dusche aus, rubble dann unter dem kalten Wasser die Dreckkruste von meiner Haut. So, das derzeit Wichtigste ist erledigt: Der Keller ist fast ganz geräumt.